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zeit geschehen

Ich freue mich ja, wenn in der deutschen Servicewüste einmal etwas grünt: Dies jedenfalls behauptet ein ortsansässiger Optiker, und ich will ihm wohl glauben, dass ich bei ihm am Freitag um 17 Uhr kommen kann, ich in dieser Zeit fachkundig und stilsicher beraten werde, eine augenoptische Untersuchung bekomme, die allen Anforderungen standhält und dass ich schließlich bis 18:00 Uhr mit meiner fertigen neuen Brille durch die Basler Straße gehen kann.

Welche Erfahrungen haben Sie (Gleitsichtbrillenträger wie ich haben natürlich keine Stimme)? Als ich nämlich noch keine Gleitsichtbrille trug, musste ich immer gut eine Woche warten, bis die mehrfachbeschichteten, bildschirmsicheren Kunststoffgläser einzeln geordert wurden. Damals (sagen wir bis vor 8 Jahren) hatten Optiker trotz fantastischer Gewinnspannen einen solchen Service nämlich nicht.

Ich bin gespannt, wie es heute ist - nicht in Werbeaussagen, sondern in der Realität.

Warum sollten in einer Zeit, in der sich die Kultur langweilt, nicht auch langweilige Wörter zu „Wörtern des Jahres“ gekürt werden?

Nun haben wir den Salat: „Bundeskanzlerin“ wurde zum Wort des Jahres. Freilich ist die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ weder humorvoll noch sachkritisch, wenn es um unsere Sprache geht – sie wirkte schon immer so ein bisschen wie ein Oberlehrerverein.

Das Wort – so die „Gesellschaft für deutsche Sprache“, werfe Fragen auf – wichtige Fragen für unser Volk, wie es scheint, beispielsweise: „ob es weiterhin Bundeskanzleramt heißen muss oder wie Angela Merkel (CDU) auf diplomatischem Parkett angeredet wird.“

Lassen wir das diplomatische Parkett einmal aus, auf dem es besondere Regeln gibt (Frau Botschafter, Frau Botschafterin, von Eminenzen und Exzellenzen einmal ganz abgesehen), so ist der Streit eigentlich überflüssig: Eine Frau, die den Friseurberuf ausübt, ist eine Friseurin, eine Frau, die ein Taxi fährt, eine Taxifahrerin, und selbst eine weibliche Geistliche ist eine Pastorin. Kaum jemand sagt und schreibt es anders, außer ein paar Leuten, die im Geist ewig and der Uni geblieben sind – sie schreiben natürlich, wenn es denn geht (aber auch wenn es eigentlich nicht geht) irgendwo ein großes „I“ hinein und meinen, dass, was sie schrieben, sei Deutsch – erst kürzlich las ich dieses Dummdeutsch in einer Software-Beschreibung, und in Blogs ist es ebenso zu finden: LeserIn.

Es scheint, als würden wir in Deutschland Problem herbeireden. Immerhin schreibt die Gesellschaft für deutsche Sprache“ selbst richtiges Deutsch: „Die Gesellschaft für deutsche Sprache hat die E-Mail-Adressen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geändert.“

Sehen Sie, so haben wir es gerne: „Die Kanzlerinnen und Kanzler der Universitäten der Bundesrepublik Deutschland“ – es geht doch, wenn man will, auch ohne die Frage, ob „Kanzlerin“ nun erhebliche Änderungen der Sprachkultur nach sich ziehen würde, oder?

Jetzt ist sie wieder da, die Zeit, in der die Kinderaugen strahlen und die Kassen der Einzelhändler klingen. Wahrlich, süßer klingen sie nie als zu der Wei-hei-nachtszeit. Sollen sie ruhig – passiert ja nicht das ganze Jahr, so etwas.

Es ist auch die Zeit, in der sich der Herr Pfarrer die Haare raufen und mahnend den Finger heben: Die „ursprüngliche Bedeutung“ sollte man wieder lehren, wissen sie, die ursprüngliche Bedeutung unseres Weihnachtsfestes.

Nicht Weihnachtsmänner, sondern Krippen! Keine Christkinder, sondern Jesuskinder! Keine Tannenbäume, sondern Kirchgesang!

Die ursprüngliche Bedeutung? Es bringt mich zum Lächeln. Der Ursprung unseres Weihnachtsfestes liegt doch ganz woanders, Herr Pfarrer – sollten sie eigentlich wissen, sie sind ja ein gebildeter Mann.

Nein, ich will sie nicht erneut damit langweilen, dass uns die Missionare dieses christliche Weihnachten in die Zeit der Wintersonnenwende hineingedrückt haben und uns so das ganze Fest seines ursprünglichen Sinns entkleideten. Vielmehr will ich Ihnen dies sagen: Am Weihnachtsabend, so sagt eine alte niederdeutsche Geschichte, da „piepen die Mäuse in Großvaters Haus“.

Der liebe Gott, dass Jesuskindlein nebst Ochs’ und Esel und Morgenlandweisen und was sonst noch an Weihnachten in aller Munde ist, blieb bei uns „außen vor“, wie man so sagte – aber der Lichterbaum natürlich nicht – sehen sie, und den habe ich heute auch noch zu Weihnachten.

Doch Großvaters Haus ist nicht das Haus meines Großvaters, denn jener besaß gar keines. Es ist das Haus jener Gedanken, die uns an unsere Existenz erinnern, an die Wurzeln dessen, was unseren persönlichen Erfahrungsschatz ausmacht. Der einsame Wanderer durch die Gassen, der auch ich über viele Jahre war, schrieb einst, dass Markt und Straßen verlassen seien an diesem Tag. Er sieht die Menschen wohl, die ihre Häuser still erleuchtet halten, doch was soll er in dieser Nacht mit den Menschen? Denn die wirkliche Besinnung findet er erst, wenn kein Mensch mehr seine Gedanken stört: Draußen, auf dem freien Feld erlebt er die Ruhe, die ihn befähigt, in sich hineinzuhören: Nun kann er es wahrnehmen, das stille Singen der Seele. Ich weiß, ich schreibe dies in die falsche Zeit hinein. Derzeit singen die Seelen, wenn überhaupt, laut und mit falschem Zungenschlag.

Wenn Sie es „in Kleingeld“ wollen: Sehen sie, ich habe den extrem harten Winter 1947 als kleines Kind überlebt - in der eisigen äußerlichen Kälte jenes Winters, und so gut wie ohne Brennstoffe - denn die, vor allem Anderen, gab es nicht. Man sagt, ein Kind in jenem Alter erinnere sich an nichts, doch noch heute verfalle ich in Panik, wenn die Innentemperaturen unter 18 Grad sinken, und noch heute genieße ich jeden Tag nach der Wintersonnenwende, der länger ist als sein Vorgänger, so lange, bis sich die ersten Blüten der Magnolien öffnen. Dann weiß ich, dass ich wieder einen Winter überstanden habe.

Was er wohl dazu aufgeschrieben hätte, halb in den Bart gebrabbelt und letztlich auf der Bühne von sich gegeben? „Sehen se Mal, der da, der soll ja ein ganz bekannter Kabarettist gewesen sein“.

Bergleute, Ehrengrab, dazu ein leibhaftiger Ministerpräsident. Schade, dass er es nicht mehr mit ansehen konnte. Schade, dass er nichts mehr dazu auf der Bühne sagen kann. Nur er hätte es gekonnt: In den bekannt leisen Tönen, deren verzwickter Sinn seinen Zuhörern auch noch nach Tagen nachschlich: Was hatte doch Hagenbuch zugegeben?

Hanns Dieter Hüsch gibt es nur noch als Namen auf einem Grabstein. Aber Hagenbuch wird wohl überleben.

Ja, sie haben richtig gelesen: Ja, Sie haben nichts gelesen. Kein Kommentar am Sonntag. Was in Deutschland geschah, erschien mir nicht nur belanglos, es war auch so: Die deutschen Neidhammel fallen über Herrn Schröder her – das also soll etwas besonderes sein? Hoffentlich hält er stand und beweist, dass ein freier Mann in einem freien Land denjenigen Beruf ausüben darf, den er auch ausüben möchte. Mag ja sein, dass man „Karenzzeiten“ braucht. Dann soll man sie bitte im Gesetz festschreiben und nicht wieder diese lachhafte deutsche Neidhammelmentalität heraushängen lassen:
Ach, wie schön, wie selbstgerecht wir doch wieder sind. Was haben wir davon? Nichts. Keine Lösungen aktueller Probleme, sondern das deutsche Phänomen: An den tatsächlichen Problemen tun wir nichts, aber bei Scheinproblemen kocht die Stammtischseele – und leider schüren die Journalisten noch dieses Feuer des Hasses, dass unsere Seelen verbrennt.

Manchmal bin ich froh, dass ich im Ausland wenigstens nicht dauernd mit diesem selbstgerechten Geschwätz konfrontiert werde – und dies, obwohl insbesondere die deutschen Sender das Thema den ganzen Tag strapaziert haben – es war vielleicht interessanter, als Weihnachtsmanngeschichten aufzutischen.

Zum Nikolaustag

Sunnerklus der grode Mann
Kloppt an ale Dören an
Lüttje Kinner gift he wat
Grode Kinner steckt he in’ Sack

Ick bünn so’n lütschen König
Gif mi nich to wenich
Lot mi nich so lange stohn
Denn ich möt no wieder gohn.

Nikolausgedicht der Kinder - zum traditionellen "Nikolauslaufen" in Bremen lautstark und fordernd bei den örtlichen Geschäftsleuten vorzutragen.

Nachdem ich mich in einem Titel so sehr vertippt hatte, dass aus dem Sterben das „Streben“ wurde, war ich natürlich (um im Bild zu bleiben) bestrebt, auch einen Artikel über das Streben zu schreiben. Zuletzt habe ich das Wort in diesem Zusammenhang gehört: „ich bin bestrebt, den Vertrag so aufrichtig wie möglich abzufassen“.

Streben oder bestrebt sein bedeutet, etwas nachhaltig zu verfolgen. Es heißt nicht, dass der Erfolg am Ende stehen muss, auch das Bemühen wird oftmals gewürdigt. „“Danach lasst uns alle Streben“ heißt es im Deutschlandlied – und der Autor wusste sehr wohl, dass dieses Bestreben mühevoll sein würde und dass es allerlei Hindernisse auf diesem Weg auszuräumen galt, ging es doch um nichts weniger als „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Man könnte dem Autor bestenfalls zum Vorwurf machen, dass er deutschtümelnd, wie er ja nun einmal war, das Hirn vergessen hatte: „Brüderlich mit Herz und Hand“ sollten wir es erreichen – vom Verstand war nicht die Rede.

Das Wort hatte zu alten Zeiten eine sehr positive Bedeutung, doch die meisten von uns haben das Wort in einem negativen Sinn erfahren: Entweder sie beschimpften Mitschüler als „Streber“ oder sie waren selber welche. So wurde die Bedeutung umgekehrt: Wer mehr tat als nötig, und dies auch noch öffentlich bekannt gab, war ein Streber, ja, schlimmer noch, eine Streberleiche. In manchen nordischen Gegenden ist dies noch heute so: Gut ist nur, was alle zusammen leisten, womit sich der Einzelne hervorhebt, kann nicht gut sein.

Doch die Menschheit hat sich immer mal ein bisschen so, mal ein bisschen anders entwickelt: Schon bei den Affen finden wir, dass zwar gut ist, was für alle gut ist, dass man aber auch als Affe sehr erfinderisch sein kann, um sich daran ein bisschen vorbeizumogeln – und er kommt damit auch durch.

Was das mit Blogs zu tun hat? Nun, zum Beispiel dies: die Menschen, die schreiben, ob sie nun bloggen oder nicht, müssen erkennen, ob sie sich ausschließlich individuell verwirklichen wollen oder sich eher zusammenschließen, um gemeinsame Konzepte zu verfolgen, ohne die Individualität aufzugeben. Das Stichwort, bei Blogger unbeliebt, heißt Bündelung von Themen, gemeinsames Auftreten, gemeinsame PR. Ich habe es nur schon so oft geschrieben, dass es mir zum Halse heraushängt: Anders als bei Wikipedia, wo sich das Ergebnis, auch, wenn es umstritten ist, durchaus sehen lassen kann, sind Blogs immer noch ein Haufen Wurstmasse, in der man weder die Zutaten noch die Endprodukte eindeutig identifizieren kann.

Da ich keine Lust habe, noch mehr Appelle an Blogger zu richten, die entweder verhallen oder von den selbst ernannten Oberbloggern absichtlich nicht verstanden werden wollen, eröffne ich vielleicht doch besser bald eine Würstchenbude. Da weiß man, was man hat. Ach, sie fragen sich, warum die Oberblogger an die große, übergreifende Zusammenarbeit nicht heranwollen? Weil es wahrscheinlich ihren Medientod bedeuten würde. Womit wir wieder zum Blogsterben, dem Ausgangspunkt, zurückgekommen wären.

In meinem letzten Artikel hatte ich das Wort „Parade“ verwendet – es hat zwar niemand gemuckt, aber ich will es dennoch erklären: Eine Parade ist derjenige Teil einer Schaubude, auf dem kostenlose Vorführungen für das Publikum stattfinden.

Bei einigen dieser Buden wurden außen auch leicht bekleidete Damen gezeigt, die sich innen angeblich entblättern und ihre „süßen Geheimnisse“ zeigen würden. Eine der „Damen“ tat es zumeist auch – sie konnte den Oberkörper auch leicht entblößen, weil darunter eine Männerbrust zum Vorschein kam, aber ansonsten blieb es bei ein bisschen Budenzauber.

parade

"Dame" auf der Parade - Location: Stuttgart, Cannstader Wasen

© 2005 by sehpferd

In weiß nicht, ob Ihnen dies jemals aufgefallen ist. Zeitzeugen werden, jedenfalls in Deutschland, immer bemäkelt.

Zuerst sind sie viel zu jung, um Zeitzeuge zu sein. Dann waren sie gerade in der Pubertät – da hatten sie natürlich etwas anderes im Kopf als Zeitzeugnisse abzugeben, und überhaupt sehen Jugendliche die Welt mit ganz anderen Augen, man sollte doch mindestens dreißig Jahre sein, um eine Beurteilung des Zeitgeschehens abgeben zu können. Sind sie dann dreißig, sind sie entweder immer noch zu jung, weil ihnen der Erfahrungsschatz weiterhin fehlt, um etwas beurteilen zu können, oder sie sind gerade mir Ehe und Familie beschäftigt und haben deshalb den Zeitbezug verloren. Mit 40 ergäbe sich vielleicht gerade einmal eine Lücke, in der ihnen die Gesellschaft zutrauen würde, Zeitzeuge zu sein, doch da waren sie ja in Karriere, Scheidung oder beides engagiert, sodass ihnen wieder der Blick verstellt war, Zeitzeuge zu sein, und das geht mindestens bis 50, wenn sie da nicht gerade nach persönlicher Neuorientierung streben, und ab 60? Ach, da können sie doch gar nicht mehr beurteilen, was die Jugend und die Mittelgeneration überhaupt denkt – sie sind als Zeitzeuge schon viel zu alt.

Überhaupt: Sagen sie mal, welchen Zugang haben sie denn überhaupt dazu? Ach, sie haben nichts studiert, was sie dazu qualifizieren würde, Zeitzeuge zu sein? Ja sagen Sie einmal, wie kommen Sie dann überhaupt dazu, die Entwicklung der Gesellschaft zu beschreiben? Das bitte, lassen sie blutiger Amateur besser bleiben. Und überhaupt – pah! Zeitzeugen! Haben wir nicht gelernt, dass erst die Geschichte Antworten geben wird? Das hatte doch der hagere, mit Mühe entnazifizierte alte Geschichtslehrer gesagt, nicht wahr? Und dann wollen Sie die Antworten schon jetzt haben? Da können wir nur den Kopf schütteln.


Sehen Sie – das alles habe ich gehört. Warum nur haben die Menschen ausgerechnet vor Zeitzeugen so viel Angst, das sie sich Scheinargumente einfallen lassen, um sie zu diffamieren?

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